Ohne Gebiss

 

Vor ein paar Tagen, da verlor ich mein Gebiss.

Es brach bei einer harten Nuss entzwei.

Sie könn sich nicht vorstelln, wie beknackt das is –

morgens, mittags, abends nur noch Brei.

 

Dazwischen schieb ich manchmal einen Zwieback rein,

mit Löffelchen in Milch gut eingeweicht.

Jetzt weiß ich auch: Das Leben kann so grausam sein,

wenn man die dritten Zähne erst erreicht.

 

Das wünsch ich nicht mal

meinem ärgsten Feind,

nee, nee...

wenn einer zahnlos spricht,

wer weiß dann, was er meint...    

 

Niemals hat man mir im Leben was geschenkt.

Keiner hat mich jemals protegiert.

Immer hab ich mich so richtig reingehängt –

bis mir dieses Missgeschick passiert.

 

Jetzt trau ich mich schon nicht mehr auf die Straße raus –

es könnt ja sein, dass einer mit mir spricht.

Mein Zahnarzt sagt: „Komm, Alter, mach dir gar nichts draus...“

Ich glaube, dass den Mann der Hafer sticht.

 

Das wünsch ich nicht mal

meinem ärgsten Feind,

nee, nee...

spricht einer zahnlos,

wer versteht dann, was er meint...

 

Mein Enkelchen sagt mir: „Och, Opa, denk nicht dran.

Hauptsache ist, du bist noch gesund...“

Sie schleppt mir täglich all die kleinen Gläser ran,

mit Babykost für meinen weichen Mund.

 

So ähnlich gings mir wohl vor meinem ersten Zahn...

Nach vielen Jahren schließt sich nun der Kreis.

Da kommt sie wieder – gleich fängt sie zu füttern an...

ich glaub, dass ich ihr in den Löffel beiß...

 

Das wünsch ich nicht mal

meinem ärgsten Feind,

nee, nee...

wenn einer zahnlos spricht,

wer weiß dann, was er meint.

 

Copyright Anfang der 90er Jahre Gerd Schinkel

 

In meiner beruflichen Zeit als politischer Bonner Hörfunk-Korrespondent (zwischen 1988 und 1994) gehörte es zu meinen Aufgaben, die live-Übertragungen wichtiger - oder vermeintlich wichtiger - Bundestagsdebatten im Hörfunk als verantwortlicher Redakteur zu begleiten. Ab und zu musste ich dann auch in die Kabine, um bei einem Rednerwechsel anzusagen, wer gerade geredet hatte und wer als nächster ans Mikrofon treten würde. In einer fürchterlich langweiligen Debatte habe ich mir vorgestellt, alle die da ans Rednerpult gingen, hätten keine Zähne mehr… Diese Vorstellung macht die Debatte für mich erträglicher – und es entstand dieser Text. geschrieben Anfang der neunziger Jahre.