Gerd Schinkel

Rootsmusiker in deutscher Sprache

Versuch einer Standortbestimmung 

 

Nicht jedem ist es gegeben, zu jeder Zeit bei jeder Gelegenheit die passenden Worte zu finden, um darüber gleich so zu reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Es gibt Menschen, die dazu längere Anläufe brauchen, die auch dann noch unsicher bleiben, wenn sie den Anlauf hinter sich bringen konnten und selbst nicht zu erklären wissen, wie sie die Herausforderung annehmen und bestehen konnten. Und häufig sind solche Menschen dankbar, wenn sie etwas finden, was ihnen dabei hilft, sich auszudrücken: zum Beispiel Lieder.

 

Wenn etwas schwer fällt, geht’s manchmal leichter mit Musik. Sie kann Kräfte mobilisieren, Hemmungen überwinden und Talente freisetzen, die ungenutzt verkümmern würden. So oder so ähnlich hat es auch bei mir mit „meiner“ Musik angefangen, als ich 17 Jahre alt war und kaum davon zu träumen wagte, auch in diese kleine Szene der begehrten, erfolgreichen, strahlenden Stars im Showbizz aufzusteigen.

 

Was blieb, um sich beispielsweise bei den Mädels interessant zu machen? Der dornige Weg des Solisten mit der Wanderklampfe, der sich Bob Dylan und Donovan zum Vorbild nimmt und aus persönlichen und musikalischen Nöten eine Tugend macht, äußerliche Unzulänglichkeiten zum Markenzeichen, den virtuosen Minimalismus zum Kunstprinzip erklärt, jedem Starrummel abschwört und sich standhaft weigert, Noten zu lernen. Wofür auch, wenn damit sowieso keine Groupies zu beeindrucken sind.

 

Und weil die engen Grenzen der eigenen Fähigkeiten nur viel zu deutlich auffallen, wenn man sich an bekannten Vorbildern orientiert und deren Repertoire ausschlachtet, empfiehlt es sich, mit Reimen und Akkorden eigene Maßstäbe zu setzen: selber Lieder zu schreiben, die von dem handeln, was man selbst so durch den Kopf schiebt, in der Hoffnung, dass Peinlichkeiten niemand übel nimmt. Hinter der Gitarre kann man sich zwar nicht verstecken, aber teilweise „verbarrikadieren“ – zumindest kann man sich an ihr festhalten.

 

Um nicht gleich schon am Anfang abzustürzen, habe ich zu Krücken gegriffen, die mir Halt geben konnten, während ich mich bemüht habe, künstlerisch laufen zu lernen. Ich habe mir Lieder meiner Vorbilder, die ich eher heimlich nachgesungen habe, weil ich öffentlich dazu nicht den Mut hatte, behutsam ausgesucht, auf ihre Tauglichkeit überprüft und zaghaft in meine eigene Sprache übersetzt und dann auf deutsch gesungen. Damit hatte ich "eigene Lieder" - zumindest sang sie kein anderer.

 

Heraus kamen dabei Lieder, die mal nah am Original übersetzt, häufiger sinngemäß übertragen, mitunter aber auch nicht mal mehr entfernt inhaltlich ähnlich waren, weil sie von mir einen völlig anderen Sinn bekommen hatten. Mit sogenannten „topical songs“, die im Original schon aktuelle Ereignisse aufgegriffen hatten, war es auch anders kaum zu rechtfertigen, wenn der aktuelle Aufhänger meinen Zuhörern bekannt sein sollte. Da ging es dann um Ereignisse, die die Leute in Erinnerung hatten. Bei Liebesliedern und anderen Songs, die eher Lebenserfahrungen widerspiegelten, waren Übersetzungen oder Übertragungen leichter möglich – und gelegentlich auch leichter als das „Erfinden“ eigener Lieder, solange es an eigener Lebenserfahrung mangelte.

 

Doch mit den Jahren sammeln sich auch eigene Erfahrungen an, die die Weisheiten aus zweiter Hand ergänzen: Die Schulzeit mit Ehrenrunde beendet, das Studium im zweiten Anlauf abgeschlossen, Partnerschaften getestet, das Scheitern von Beziehungen erlebt und „die Richtige“ gefunden, Abschied und Neuanfang in anderen Lebenskreisen gewagt, Freunde gefunden und aus den Augen verloren, einen Beruf erlernt, die Erfüllungen und Widrigkeiten des abhängigen Arbeitslebens kennen gelernt, Konkurrenzdruck erlebt und Feinde gemacht, Erfolge gefeiert und Scheitern weggesteckt, Familie gegründet und Kinder großgezogen, mit ihnen gelacht und gelitten, sich mit dauerhafter Absicht niedergelassen, Eltern beerdigt, Krankheiten überstanden, zu Großeltern gemacht worden, aus dem Berufsleben ausgeschieden... mit anderen Worten: man ist gereift.

 

Nach Jahrzehnten regelmäßiger Umsetzung von nunmehr eigenen Erkenntnissen, Erlebnissen, Enttäuschungen und Begeisterungen in gereimten Zeilen, Strophen, Melodien und Griffen ist daraus ein Repertoire angewachsen, das beträchtlich ist. Ein „Liedermacher“ macht eben Lieder bis zum Abwinken... die nur keiner hören will. Oder doch? Als wenn es darauf ankäme... Es gibt Menschen, die einen Kreativitätsdrang haben, der sich nicht davon zügeln oder beeindrucken lässt, ob nun Interessenten, Konsumenten oder gar Bewunderer dafür zu finden sind. Wer „brennt“, fragt nach keinem Markt.

 

Doch weil der Markt nun mal überschwemmt wird, erleichtert es die Auffindbarkeit, wenn man sich bereit findet, eine gewisse Vergleichbarkeit zuzulassen, sich für die Einsortierung in Schubladen zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, in solchen Schubfächern zu verschwinden und nicht wieder aufzutauchen. Eh es jemand anders macht und mich dahin „wegsortiert“, wo ich nicht hinein gehöre, will ich es lieber selbst versuchen und es mir dort „kuschelig“ machen, wo ich mich heimisch fühlen kann.

 

Es gibt in der amerikanischen populären Musik ein Genre, in dem sich Künstler bewegen, die gelegentlich auch für bescheidene kommerzielle Erfolge gut sind, die aber gleichzeitig auf den großen Zuspruch pfeifen und zufrieden damit sind, wenn es ihnen gelingt, mit den Songs, die sie singen und aufnehmen, ihre Steuerschulden zu bezahlen. Sie singen von ihren eigenen Erfahrungen, in Liedern, die sie selbst geschrieben haben, oder sie greifen auf Lieder zurück, die andere über ihre Erfahrungen gemacht haben, die sich mit den Erfahrungen der Sänger decken. Die Künstler wissen, wovon sie singen. Sie haben Lebenserfahrung gesammelt, Liebe gespürt, Ablehnung erfahren, Krisen gemeistert, Glück erlebt, Unglück erlitten, Zorn gespürt, Schmerz ertragen – und können nun beiläufig darüber singen, ohne dies erklären zu müssen oder rechtfertigen zu sollen.

 

„Rootsmusic“ nennt man diese „Richtung“, in die sich „Singer/Songwriter“ bewegt haben, die ihre Einflüsse ursprünglich aus Folk, Blues, Rock, Soul, Country oder Pop zogen und ihre Wurzeln nicht verleugnen, gleichzeitig aber Genuss daran finden, mit beiden Beinen fest auf dem Boden über diesen Wurzeln, diesen „roots“ zu stehen, und die mit den verschiedenen „Spielarten“ ohne Berührungsängste experimentieren, um ihre Lebenserfahrungen musikalisch und inhaltlich auszudrücken.

 

Genau das, mal mehr mal weniger gelungen, versuche ich auch in Liedern übers Leben, übers Lernen und über die Liebe, über Kinder, Jugend und Älterwerden, Trotz und Träume, trotzige Träume, Kämpfe, Freud und Leid, Abschied und Wiedersehen, Wut und Ohnmacht, Nöte und Zwänge, Erinnerungen und Bestandsaufnahmen, Reflektionen und Ansichten, Aussichten und Hoffnungen, Träume und Wahrheiten - Protestsongs und Privatlieder, mit Gefühl und Leidenschaft. „rootsmusic“ – aber in meiner Sprache.

 

Lieder, die aus meiner Lebenserfahrung schöpfen, mit Texten, die eine Reifeprozess erkennen lassen, und mit einer Musik, in mit allen Einflüssen gesättigt ist, die mein Leben begleitet haben: Als Autor und Sänger eigener und angeeigneter „Überlebenslieder“ – eben Lieder übers Leben und Lieder vom Leben lieben lernen, vom Leben, Lieben und Lernen.

Was ist wahr
Text und Musik: Gerd Schinkel
Was ist wahr.mp3
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